Der Gebäudekomplex der Vele (italienisch für Segel), im Stadtteil Scampia, in der nördlichen Peripherie Neapels taucht in den Medien regelmäßig als Symbol für die malavita, für Mafia und Drogenkriminalität in der süditalienischen Metropole auf. Während die Kommentator*innen nicht müde werden von großen Mengen Rauschgift, von Morden und «heldenhaften Polizeiaktionen» zu berichten, wird nur wenig über die tatsächlichen Lebensrealitäten der Bewohner*innen berichtet.
Ein großer Teil der Bewohner_innen der Vele sind Kinder. Während die Gebäude mehr und mehr zerfallen, beschränkt sich die Präsenz des Staates hier weitgehend auf regelmäßige Polizeirazzien und auf das Entfernen von Treppen zu leerstehenden Wohnungen, durch die der Zuzug neuer Familien verhindert werden soll. Viele Kinder verbringen ihre Nachmittage mit Geschwistern und Freund*innen in den Treppenhäusern, zwischen Glasscherben und tropfenden Wasserleitungen, in den leerstehenden Tiefgaragen, in denen sich gebrauchte Spritzen häufen, oder in schwindelerregender Höhe auf den moosbewachsenen Flachdächern. Während kleinbürgerliche italienische Familien die Sommerferien meist am Strand verbringen, trifft man die jungen Bewohner*innen der Vele selbst in der Hitze des Augusts zwischen den selben Mauern aus asbesthaltigem Beton an.
So wenig das Umfeld, welches die Vele bieten, dem Idealbild einer für Kinder geeigneten Umgebung entspricht, so beeindruckend ist es zu sehen, wie sich die jungen Bewohner*innen ihre Umgebung aneignen, sie entsprechend ihrer Bedürfnisse nutzen und umgestalten. Treppenhäuser werden zu Fussballfeldern, verwinkelte Gänge zum perfekten Feld für Versteckspiele, leerstende Garagen zu Karaokebars, mit einfachen Plantschbecken ausgestattete Terrassen zum Freibad mit Blick auf den Vesuv… Gegen Abend erfüllt das Schreien der Mütter, die von der Arbeit zurück sind und zum Essen rufen die Gänge und Treppenhäuser und müde bewegen sich Gruppen kleiner Rabauken in Richtung der heimatlichen Wohnung, in der sie nachts im Traum schon die Späße für den nächsten Tag aushecken werden.
Unter ähnlich prekären Bedingungen lebt am Rande Scampias eine Gemeinschaft von Roma und Romnja seit Jahrzehnten unter einer Autobahnbrücke in der informellen Siedlung Campo Cupa Perillo. Diese leiden neben der monetären Armut, die sie mit den Bewohner*innen der Vele verbindet, auch unter extremer rassistischer und antiziganistischer Gewalt sowie Diskriminierung in allen Bereichen der italienischen Gesellschaft – unter erschwerten Zugang zu formeller Arbeit und Bildung. Die Organisation chi rom e… chi no arbeitet seit über 15 Jahren mit den Bewohner*innen dieser, ständig von Räumung bedrohten Campo zusammen. Besonderes Ziel ist es die Annäherung zwischen den Roma und der restlichen Bevölkerung des Viertels zu fördern, rassistische Vorurteile und Diskriminierung im Alltag zu bekämpfen. Auch dank der Arbeit von chi rom e… chi no ist ein vertrautes, freundschaftliches Zusammenleben gerade zwischen jungen Menschen aus beiden Bevölkerungsgruppen bereist Realität geworden. Auf gemeinsam gefeierten Stadtteilfesten, sommerlichen Jugendfreizeiten im Umland Neapels, im jährlich stattfindenden Theaterprojekt politischen Karneval des GRIDAS haben sich Freundschaften gebildet, wird Diversität als Reichtum gelebt, werden gemeinsame Interessen gemeinsam vertreten.
Durch unsere Zusammenarbeit mit chi rom e… chi no lernten wir viele Kinder aus dem Campo Cupa Perillo und aus den Vele kennen. Sie zeigten uns die vele in ihrer Ambivalenz, in welcher finanzielle Armut und staatlich gebilligter baulicher Verfall das kindliche Lebensumfeld ebenso prägen, wie die starke Bindung durch solidarische soziale Beziehungen und die Vielzahl an, von der kindlichen Phantasie zu gestaltenden Freiräume. Um dieses gestalterische Potential zu fördern bemalten wir im Frühjahr und Sommer 2009 immer wieder mit Kindern und Jugendlichen die grauen Wände der Vele.
Gemeinsam mit chi rom e… chi no realisierten wir das Projekt Il Quarto Piano. Unsere Idee war es, die Kinder im Grunde nur bei dem zu unterstützen, was sie ohnehin täglich praktizieren – die Aneignung, Umnutzung und Gestaltung des eigenen alltäglichen Lebensumfelds. In diesem Sinne wählten wir mit einer Gruppe Kinder aus den vele und aus dem Campo eine leerstehende Wohnung in den vele, befreiten sie von alten Möbeln und Müll, reinigten und bemalten sie schließlich. Ziel war es, den Kindern die Möglichkeit zu geben eine Wohnung so zu gestalten, wie sie es für geeignet hielten, um diese anschließend als Ort für ihre täglichen Spiele zu nutzen. Schon im Laufe der Bemalung zeigte sich, dass die noch im Entstehen begriffene Wohnung schon als Ort des Spiels genutzt wurde. Gegenstände die mensch eben noch selbst an die Wand gemalt hatte, wurden schon im nächsten Moment ins Spiel integriert – der kindlichen Phantasie entsprungen, in ihrem Nutzen und ihrer Wirkung vollkommen real.
Aus dem Versuch dieses Spiel festzuhalten entstand der Kurzfilm Il Quarto Piano, der unter anderem auf den Filmfestivals Festival del Cinema dei Diritti Umani 2010 in Neapel und Buenos Aires und dem Festival dello Spazio Pubblico 2011 in Neapel großen Anklang fand und online in voller Kürze zu sehen ist.